“Geschichten mit Marianne” – Xaver Bayer

Ich bin auf Xaver Bayer’s neues Buch dank dem österreichischen Buchpreis 2020 aufmerksam geworden und auch wenn es für mich bei einer Bewertung von “nur” 3/5 ★ bleibt, war es dennoch eine sehr unterhaltsame Leseerfahrung! Das Buch ist so kurz, dass man es innerhalb eines Tages auslesen kann und es sich ideal dafür eignet, wenn man mal ein bisschen weniger Zeit zum lesen hat und sich etwas kurzes zwischendurch gönnen möchte. Über die knapp 180 Seiten schafft es der Autor einen zu überraschen, zu schockieren, zu fesseln, zu verwirren und zu berühren. All das mit einer sicheren Wortgewandtheit, die ein stilistischer Genuss ist, wie man es anhand der nächsten Zitaten als Beispiele erkennen kann:

Es ist dann einfach still, und das macht diese Momente so wertvoll. Es dauert zuerst immer eine kleine Weile, bis sich die Stille aus ihrem Versteck hervortraut. Nur zögerlich nähert sie sich, wie um auszukundschaften, ob ihr denn wirklich keine Gefahr droht. Dann aber, sobald sie Vertrauen gefasst hat, lässt sie sich auf einen nieder, wie ein gehetztes Tier, das sich endlich in Sicherheit befindet, senkt sich über den Raum und erfüllt uns beide mit ihrem Nichtswollen.

S. 103

Im Nebel, so kommt mir vor, werden die Menschen sanfter, man bewegt sich langsamer und vorsichtiger – es ist wie eine milde Naturkatastrophe, die uns vor Augen führt, dass wir alle im selben Raumschiff sitzen und verständnisvoll miteinander umgehen sollen.

S. 171

Was mich am meisten an dem Roman fasziniert hat, war was für eine detaillierte Analyse der heutigen Gesellschaft im Jahre 2020 dem Autor gelungen ist. Angesprochen werden Themen wie:
– die Übersättigung durch die digitalen Anteile in unserem Leben;
– unsere Abhängigkeit von materiellen Dingen;
– romantische Beziehungen und ihre Grenzen, die wir bereit sind zu ertragen;
– die Angst vor der Einsamkeit;
– zwischenmenschliches Vertrauen und noch viele weitere!

Ich habe mit dieser Arbeit, mit dem Fotografieren und dem Entwickeln und Verfertigen von Abzügen in meinem zur Dunkelkammer gewordenen Badezimmer, unbewusst den Versuch unternommen, einen Zustand herbeizuführen, der es mir erlaubt, mich in ein beziehungs- und gesellschaftsloses Wesen zu verwandeln, mich aus jeder Beziehung zu Menschen herauszuziehen […].

S. 105


Man schwebt dabei beim Lesen in einem traumartigen Zustand, der einen unaufhaltbar zur Selbstreflexion stößt. Ich ertappte mich dabei, wie ich Vergleiche zu meinen eigenen Lebenserfahrungen aufgebaut habe, aber auch dabei, wie sich auf eine visuelle Art und Weise Zusammenhänge mit Filmen, die ich bereits gesehen habe, geformt haben. So haben sich Szenen gebildet, scheinbar wie aus Filmen wie “The Lobster” (2015) (wo sich Menschen gegenseitig im Wald jagen), “Ready or Not” (2019) (wo man sich in einer ausweglosen Situation befindet, wo es um Leben und Tod geht, in der man sich nur vorwärts bewegen kann) oder “Vivarium” (2019) (wo man quasi in einem endlosen Irrgarten mit seinem Auto fahrend stecken bleibt und nur darauf hoffen kann, dass einem der Sprit ausgeht). Falls euch einige der Filme davon bekannt vorkommen und sie euch gefallen haben, werdet ihr bestimmt auch das Buch ansprechend finden 🙂

Klingt alles soweit so gut, warum dann der Abzug von 2 Sternen? Für beide davon hängt das mit persönlichen Präferenzen zusammen. Wenn ihr rauslesen könnt, dass diese keinen besonders hohen Stellenwert für euch haben, wird euch das Buch höchstwahrscheinlich noch besser als mir gefallen 😉

In erster Linie bin ich einfach immer noch kein Fan von Kurzgeschichten geworden. Ich gebe ihnen immer wieder eine Chance, so wie ich früher immer wieder Oliven oder Bier gekostet habe, in der Hoffnung, eines Tages auf ihre Seite bekehrt werden zu können und sie plötzlich mögen zu lernen. Vielleicht habe ich mich in der Zwischenzeit an die Eigenschaften von Kurzgeschichten gewöhnt, es ist aber immer noch ein weiter Weg, sie auch tatsächlich genießen zu können. In diesem Fall wird einem das Lesen dennoch angenehmer gemacht, da die einzelnen Geschichten alle miteinander zusammenhängen, da die Protagonisten immer dieselben bleiben – der namenlose männliche Erzähler und Marianne, mit der er seit 7 Jahren schon in einer Beziehung ist;

Der zweite Punkt für den Abzug von einem Stern hängt damit zusammen, dass mir die Erzählung persönlich einfach zu abstrus war. Ich habe normalerweise eine immense Freude daran, in verschiedene verrückte Welten von Autoren wie Haruki Murakami oder Yukio Mishima einzutauchen, hierbei wurde aber für mich eine Toleranzgrenze an erzählerischem Wahn überschritten 😀

Als ich mich wieder entkrampfe, pulsiert ein Schmerz meine Arme hinauf, und bevor dieser Schmerz in einer riesigen Explosion meinen Brustkorb sprengt, erfasst mich die unglaublich naheliegende und tödliche Gewissheit, dass diese Welt nichts als ein subversiver Schimmelpilz in einem durch und durch digitalen Universum ist […].

S. 134

Eines meiner Lieblingsdetails an dem Buch war, wie der Anfang und das Ende des Buches in perfektem Einklang zu einander standen. Zwischen der ersten und der letzten Seite werden so viele absurde und irre Geschichten untergebracht, dass diese Phrasen zu Beginn und auf den letzten Seiten zu einer gewissen Ruhe um die Geschehnisse herum beitragen.

“Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?”, rufe ich in die Küche.
“Ist bald fertig, danke!”, kommt Mariannes Antwort.

S. 7

“Gleich fertig”, sagt Marianne, ohne ihren Blick von der Pfanne auf dem Herd abzuwenden.
“Danke”, sage ich, trete hinter sie, umarme sie und küsse ihren Nacken.

S. 180

Meiner Meinung nach tragen folgende Faktoren zum Erfolg des Buches bei:

– Ein Terrorakt in Wien, der scheinbaren Sicherheitsblase an Stadt, der sowohl auf den ersten Seiten des Buches beschrieben wird, als auch in Realität in November zum Publikationsjahr des Buches, in 2020, stattfindet;
Das Thema der Reflexion über die moderne Welt, die Realität, das Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen und seine eigene Abhängigkeit von diesen fand sich in komplettem Einklang mit den Weltgeschehen des Jahres 2020;
– Die Kürze der Geschichte, so dass sie für jeden interessierten leicht zugänglich ist.

Insofern kann ich zusammenfassend sagen, dass wenn bei euch ein Interesse an einem komplex-eigenartigen Buch besteht und ihr neugierig über den diesjährigen Gewinner des österreichischen Buchpreises seid, werdet ihr durch die “Geschichten mit Marianne” aus der Realität kurz in eine außergewöhnliche kleine Welt abtauchen können.

“Geschichten mit Marianne” – Xaver Bayer

★★★☆☆ (3/5)

Edition: ISBN 97831-99027-240-4
Jung und Jung, 2020

Leave a Reply

Fill in your details below or click an icon to log in:

WordPress.com Logo

You are commenting using your WordPress.com account. Log Out /  Change )

Twitter picture

You are commenting using your Twitter account. Log Out /  Change )

Facebook photo

You are commenting using your Facebook account. Log Out /  Change )

Connecting to %s