Natsu Miyashitas Buch schafft vor allem eines hervorragend – eine besondere Stimmung zu zaubern. Im Vergleich zum raschen und gestressten Alltag bietet einem die Geschichte in “Der Klang der Wälder” eine Oasis der Ruhe und des Rückzugs. Ich habe mich jedes Mal aufs Neue darauf gefreut, in das Buch einzutauchen, was auch durch die wunderschöne Ausgabe verstärkt wurde. Dickes Papier, mit dem das Umblättern eine Freude ist und das Hardcover mit dem schönen Design, trugen zusammen zum idealen Lesevergnügen bei. Von dem ersten Satz an fühlte man sich wie eine andere Welt transportiert:
Ich konnte den Wald riechen. Einen herbstlichen Wald in der Dämmerung, wenn der Wind durch die Bäume fegt und das Laub raschelt. Den feuchten Duft des Waldes bei Einbruch der Nacht.
Nur, da war kein Wald. Und dennoch roch ich das welke Herbstlaub, spürte die sich herabsenkende Dunkelheit, während ich mich doch nur in einer Turnhalle aufhielt.
S. 7
Um es kurz zusammenzufassen, worum es in dem Buch geht – im Mittelpunkt steht die Geschichte eines jungen Mannes, Tomura, der sich dafür entscheidet, sein Leben dem Stimmen von Klavieren zu widmen. Geographisch spielt sich das ganze auf der Insel Hokkaido ab, die sich ganz im Norden von Japan befindet. Durch diese Tatsache kristallisiert sich ein Teil des großen Erfolges des Buches im Heimatland heraus, da die Insel unter Japanern den Status von einer Art Paradies hat. Mit wunderschönen Naturlandschaften, abgeschnitten von der überwältigenden Hektik der Hauptstadt, ist es ein Rückzugsort sowohl für Touristen, als auch für Einheimische.
Wind kommt auf, ich kann den Wald riechen. Raschelndes Laub. Schwankende knarrende Äste. Fast unhörbar treffen die herabfallenden, immergrünen Fichtennadeln am Boden auf – ein Geräusch, das auf keiner Tonskala zu orten ist. Wenn ich mein Ohr an einen der Stämme lege, vernehme ich ein leises Gluckern in den Wurzeln, wenn sie Wasser aus dem Boden saugen.
S. 159
Dieses Buch sehe ich vor allem für all jene Leser als etwas ganz besonderes, die selber Klavier spielen. Mit der Geschichte lässt die Autorin einen komplett in eine Welt der Musik eintauchen, während welcher auch ihre Passion für das Instrument klar ersichtlich wird. Sogar technische Details über die Entstehung von Tönen oder den Aufbau eines Klaviers werden mit dem Leser geteilt, sodass ich am Ende des Buches viele neue Informationen unbemerkt aufgenommen habe! Die Erzählung entfaltet sich wie ein Paartanz zwischen der Musik und der Natur, wo zwischen den beiden immer wieder neue Parallelen gezogen werden.
Es gibt auch Kunden, die einen eher weichen Klang bevorzugen, während sich andere im Gegenteil scharfe, präzise Töne wünschen. Würden sie das klar zur Sprache bringen können, wäre ich besser in der Lage, beim Stimmen voll und ganz auf ihre Wünsche einzugehen. Aber meistens wissen sie selbst nicht, was sie wollen. Dann müssen wir uns gemeinsam der Sache nähern.
S. 99
Schafswolle an den Köpfen der Hämmer schlägt auf Saiten aus Stahl. Und das wird zu Musik.
S. 68
Was für mich hingegen ein wenig gefehlt hat, war eine tiefere Entwicklung der Charaktere. Sie haben leider keinen bleibenden Eindruck auf mich hinterlassen und waren nach dem Auslesen ziemlich schnell vergessen. Ein sehr offenes Ende und eine zeitweise überaus langsame Entwicklung der Geschichte haben letztendlich zu einer Bewertung von 3 aus 5 ★ beigetragen. Vielleicht auch wegen der zu hohen Erwartungen, die ich in diesen Millionen-Bestseller gesteckt hatte.
An dieser Stelle würde ich jedoch unbedingt Kojiro Hashimoto’s Film “A Forest of Wool and Steel” empfehlen, der auf dem Buch basiert ist. Dieser bietet einem eine zusätzliche visuelle und auditive Ebene, die sich mit dem Buch zu einem runden Ganzen zusammenaddieren. Andererseits aber auch ein anderes Buch der Autorin, “Der Spielplatz der Götter”, worin sie ihre persönliche Erfahrung über ein Jahr des Lebens in einem Dorf auf der Insel Hokkaido schildert. Es ist wahnsinnig spannend damit die autobiographischen Momente zu erkennen, die in die Geschichte von “Der Klang der Wälder” eingebaut wurden, unter anderem auch die große Passion der Autorin für das Klavier.
Itadori-san schlug mit beiden Händen eine Oktave an. Der Flügel erwachte, die Landschaft begann zu atmen. Mit dem Erklingen der Töne richtete sich der massive Korpus auf, streckte seine Glieder und breitete seine Schwingen aus, bereit für die Darbietung.
S. 83
Im Großen und Ganzen fand ich, dass das Buch etwas Besonderes war und es einem definitiv ermöglicht hat, in eine andere Welt zu entfliehen. Man nimmt kleine Lektionen daraus mit, das Schöne in den alltäglichen Dingen zu sehen oder auch eine Bewunderung dafür, welch harte und konsequente Arbeit es braucht, um an seine Ziele zu kommen. Zum Abschluss lasse ich noch zweite letzte Zitate hier, die zu schön waren, um sie vorenthalten zu wollen.
Es gibt keine Abkürzung durch den Wald. Man muss sich Schritt für Schritt vorantasten, indem man seine Fähigkeiten und Techniken verfeinert. Aber zuweilen wünschte ich es mir innig. Wünschte mir, ich sei mit Wunderfingern und Wunderohren gesegnet. Ich hoffte, dass sie sich eines Tages urplötzlich wie Blüten entfalteten. Wie fantastisch wäre es doch, wenn ich auf der Stelle den Klavierklang erzeugen könnte, der mir im Geiste vorschwebte. Mein Ziel, auf das ich zusteuerte, lag noch weit entfernt in der Tiefe des Waldes.
S. 124
Vor meiner Begegnung mit dem Klavier habe ich nie auf schöne Dinge geachtet. Was nicht heißen soll, dass es sie nicht gab. Ich war sogar von einer Menge schöner Dinge umgeben. Sie sind mir nur nicht bewusst als “schön” aufgefallen. Zum Beispiel der Milchtee, den meine Großmutter mir zubereitete, als ich noch zu Hause wohnte. Sie brühte ihn in einer Kasserolle auf, goss Milch hinzu, wodurch er eine Farbe annahm, die einen schlammigen Fluss nach einem sintflutartigen Regen ähnelte. Ich stellte mir dann vor, dass sich kleine Fische am Grunde des kleinen Topfes versteckt haben können.
S. 23
Einen herzlichen Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir das Buch gegen eine ehrliche Rezension zur Verfügung gestellt hat.

★★★☆☆ (3/5)
Edition: ISBN 9783458179009
Suhrkamp Verlag, 2021