“Eine Formalie in Kiew” – Dmitrij Kapitelman

Das neueste Buch von Dmitrij Kapitelman war einfach nur wie Balsam für meine ukrainische Seele. Für diejenigen, die mit dem Land und dessen Traditionen nicht so vertraut sind, kann es zu einer spannenden Entdeckungstour an Leseerfahrung werden. Von den ersten Zeilen an wurde ich von nostalgischen Gefühlen überflutet, als man den Autor auf der Reise nach Kiew, seiner Heimatstadt, begleitet. Ähnlich zu ihm, habe ich die Ukraine mit meinen Eltern verlassen, als ich gerade 8-9 Jahre alt war. Insofern haben so viele der beschriebenen Erfahrungen für mich zu 100% übereingestimmt: die Verwunderung über das Bestechungssystem, das Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem, den Spitälern und den Ärzten, aber auch die Herzlichkeit der Ukrainer, von denen man mit offenen Armen aufgenommen wird.

Unter uns gesprochen: Auf sich allein gestellt, das ist ein gleichzeitig ermutigender und beängstigender Ausdruck. Immerhin steht man, das ist ja schon was. Man könnte auch auf sich allein gelegt oder gedrückt sein. Und doch ist man eben gestellt, wie ein Verbrecher, gefangen fast.

Als schöner empfand ich immer die russische Aufforderung wsjat sebja w ruki. Sich selbst in die Hände nehmen, mein kleiner germanischer Goldfisch.

S. 31

Das Buch ist mit so viel Gefühl, Selbstreflexion und Wortgewandtheit geschrieben, dass man nach dem Auslesen einfach wieder von vorne anfangen möchte. Beim zweiten Mal fallen einem noch mehr besondere Details auf und man lernt die Schreibkunst des Autors noch mehr schätzen. Die Geschichte nimmt einen auf eine Achterbahn der Gefühle mit: mal schmunzelt man, mal lacht man auf, an einer anderen Stelle, steht man den Tränen nahe. Dmitrij hat wirklich eine Gabe dafür, die Essenz der Menschen einzufangen und sie magisch in Worte zu übersetzen. Während dem Lesen fühlt man sich in eine ganz besondere Atmosphäre versetzt. Manche Beschreibungen fühlten sich so an, als ob man vor einem Gemälde stehen würde und die ausdrucksvollen Gesichter der einzelnen Charaktere vor sich bewundern könnte.

Eine Obstverkäuferin harrt so unbewegt aus wie der Zeiger ihrer Waage. […] Eine zahnlose Händlerin beschneidet mit hängenden Mundwinkeln kleinknospige Rosen. Bindet sie zum Bouquet, setzt sich, trinkt einen Espresso, isst eine Banane, schläft ein. Der Basar schläft, das Viertel schläft, nur die Birken nicht.

S. 55-56

“Eine Formalie in Kiew” ist meiner Meinung nach ein absoluter “Must-Read” für ehemalige Ukrainer, Ukrainer die in andere Länder ausgewandert sind, aber auch diejenigen, die gern etwas über diese fremde Kultur lernen würden. Es ist eine Erzählung, welche die Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Kulturen meisterhaft beschreibt. Das Dilemma der Entdeckung, wo man wirklich dazugehört und was man als seine tatsächliche Heimat empfindet.

Unter uns Landsleuten aller Herren Länder gesprochen: Vielleicht sind wir allesamt viel zu vokabelfixiert im Verstehen und läuten die Alarmglocke der Fremdheit beim ersten unbekannten Wort, anstatt kommunizierend die nachfolgenden abzuwarten.

S. 55

Von der ungewöhnlichen Bedeutung des Wortes “normal”, bis zu einem kulinarischen “Crash-Kurs” verschiedenster “sowjetischer” Gerichte (leniwiji vareniki = faule Klößchen mit Quark) oder auch eine Einführung in die gängigsten Schimpfwörter – hier wird man Kopf über tief in eine ukrainische Welt eingetaucht.

Normalno ist vielleicht das mehrdeutigste Wort der russischen Sprachen. Wenn eine Osteuropäerin beispielsweise sagt: Ich habe zwanzig Jahre lang mit dieser Kollegin gearbeitet. Sie ist ein normaler Mensch. Dann klingt das vielleicht schmallippig, ist aber tatsächlich als höchste soziale Anerkennung zu verstehen. Eine Art Orden. Denn es ist nicht leicht, ein normaler Mensch in einem unnormalen System zu sein. Gleichzeitig kann normalno aber auch gemeint sein, dass gar nichts gut ist.

S. 145-146

Nach dem Auslesen von “Eine Formalie in Kiew”, bin ich auf Dmitrij’s erstes Buch – “Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters” neugierig geworden und freue mich schon, bald einen weiteren Teil des Lebens des Autors entdecken zu können. An dieser Stelle, möchte ich dieses kleine aber feine Buch all denjenigen ans Herz legen, die sich von einer meisterhaft geschriebenen, humorvoll-tragischen Geschichte verzaubern lassen wollen. Von mir gibt es die volle Bewertung von 5 aus 5 ★ und das Buch hat es auf die Liste meiner Lieblingsbücher geschafft!

“Eine Formalie in Kiew” – Dmitrij Kapitelman

★★★★★ (5/5)

Edition: ISBN 978-3-446-26937-8
Hanser Berlin, 2021

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